NET 12/2022

27 www.net-im-web.de 12/22 „Die IT muss vom Hausmeister zum CEO werden“ Digitalisierung bei internen Systemen ist grundsätzlich bekannt. Die Unternehmen investieren laufend viel und immer mehr Geld in die IT. Sie müssen. Aber bisher laufen die Investitionen weitgehend nur in die IT in ihrer Rolle als reiner „Erfüllungsgehilfe“, nicht als „strategischer Treiber“ des Konzern- wachstums. Digitalisierung für neue Produkte und Dienstleistungen oder direkt imVertrieb steckt oft noch in den Kinderschuhen. Altlasten belasten Ein durchschnittliches EVU betreibt mehrere hundert Systeme mit zusätzlich jeweils durch- schnittlich drei bis fünf Schnittstellen, die im Durchschnitt fünfzehn Jahre oder älter sind. Für die Belegschaft und den Kunden werden zwischen tausend und zweitausend digitale Services bereitgestellt. Diesen digita- len Bestand zu modernisieren oder auch nur weiterzubetreiben, benötigt viele Ressourcen. So sind typischerweise zwischen 80 und 95% der IT-Mitarbeiter mit Bestandserhalt beschäf- tigt. Zudem stellt die Legislatur laufend neue Anforderungen, die IT-technisch umgesetzt werden müssen. Das benötigt zusätzliche Ressourcen. Für echte Marktinnovationen und den Einsatz wirklich neuer Techniken bleiben daher oft weder Zeit noch Geld – bis auf einige wenige Leuchtturmprojekte. Das durchschnittliche EVU schafft es so, nur die Bestands-IT zu betreiben und pro Jahr vielleicht drei bis fünf strategisch wichtige Projekte umzusetzen. Notwendig, um den obien Zustand in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren zu erreichen, wäre wohl das ungefähr Dreifache. Kurz gesagt: Bis jetzt war die IT oft nur der „Hausmeister“, nun aber soll und muss sie zum „CEO“, zum strategischen Partner der Fachbereiche werden. Bei dieser Entwicklung hängen EVU sehr vielen anderen Branchen hinterher und haben manchen Hemmschuh in ihrer Struktur. Digitalisierung dringend notwendig Die dringendsten Digitalisierungsbedarfe liegen im Netzausbau (Geoinformations- systeme 2.0, Asset-Management, Workforce- Management), bei den zentralen ERP-Sys- temen und deren Automatisierung (SAP/ ERP-Ablöse und Nutzung neuer, flexibler Entwicklungsplattformen), bei der schnellen Entwicklung neuer Produkte für den Kunden (Photovoltaikangebote, Netzanschluss, Er- neuerbare-Energie-Gemeinschaften, E-Mo- bility-Lösungen) sowie im Kundenservice und im Vertrieb (moderne Vertriebs- und Serviceplattformen, Kundenportale für den Selfservice). Die größtenQuerschnittsthemen derzeit sind Process- und Code-Mining sowie Automatisierung mit Low- oder No-Code- Plattformen. Das größte Zukunftsthema ist der Einsatz von lernenden Algorithmen. Dabei gilt: Je länger EVU mit der Digitalisierung warten, desto größer wird der Projekt- und Innovationsstau. Eine Zeit lang geht das gut, es rächt sich jedoch später massiv. Die derzeitigenTurbulenzen auf den Energie- märkten und die hastigen Entscheidungen der Politik dürfen deswegen nicht dazu führen, dass die IT-Innovationen und die strategische Digitalisierung in den Hintergrund geraten. Digitalisierung ist Teil der Lösung, nicht des Problems. Dafür gibt es freilich keine Pauschallösung. Viel eher erfolgreich ist wohl eine Kombination von Maßnahmen: • Investitionen in technisch affine Mit- arbeiter; • Systemerneuerung; • Einbinden digitaler Schlüsselpartner; • Entwickeln einer echten IT- und Digi- talisierungsstrategie; • Abschneiden alter organisatorischer Zöpfe; • neues Rollenmodell; • Anstrengungen zur Änderung der Unter- nehmenskultur; • Einsparung bei wenig gewinnbringenden Sparten; • Offenheit für neue Geschäftsmodelle. Denn Energieversorger sind eigentlich prä- destiniert, sich zu weitgehend automatisierten und letztlich „selbstfahrenden“ Organisatio- nen zu entwickeln. Sie agieren in stabilen Regionen mit stabilen Kundenverhältnissen und stark reglementierten Produkten der Daseinsvorsorge. Sie liefern immaterielle Produkte, die gut zentral gesteuert werden können: von der ersten Anfrage des Kunden über die Auftragserteilung und Herstellung bis zur Lieferung und Abrechnung. Ein EVU könnte daher größtenteils automa- tisiert agieren. Doch noch immer werden Hundertschaften im manuellen Vertrieb, im Marketing und Customer Care sowie bei der Beauskunftung und Verrechnung beschäftigt. Das zeigt die nur langsame Orientierung hin zu Digitalisierung, Automatisierung und Autonomisierung. Der Fachkräftemangel und der demografischeWandel werden hier aber auch ein Beschleunigungsfaktor werden. Die EVU werden digitaler werden müssen, um die Aufgaben der Zukunft zu gewährleisten – die der Energiewende, aber auch die des Personalmangels. Der IT kommt jetzt aber – in der Praxis – oft noch keine strategische Führungsrolle zu. Daran ist sie zumTeil auch selbst schuld, das strategische Selbstverständnis fehlt. Die Entwicklung aber hat begonnen – langsam, aber stetig. Das digitale EVU der Zukunft wird eine modulare, vollumfäng- liche und digitale Kundenschnittstelle für den Selfservice anbieten (müssen) und kann sich dann auf die nach wie vor stark manuelle Instandhaltung und Entwicklung des Netzes konzentrieren. Es skaliert dann schnell neue digitale Produkte und Dienstleistungen im Bereich Speicher, erneuerbare Energien, E- Mobilität – und das bedeutet: IT. Alle diese Leistungen und deren Steuerung sind letzt- lich Software. Der Kunde betreibt dann in 90 % der Fälle Selfservice und greift nur auf persönliche Betreuung zurück, wenn persön- liche Qualitätsberatung gewünscht wird. Der Grundservice wird digital sein, und der Kunde wird genau das zu schätzen wissen. Dieses Zielbild ist zwar noch Zukunftsmusik, aber der Trend ist nicht mehr aufzuhalten. www.reqpool.com

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