NET 4/2023
10 www.net-im-web.de 4/23 Tägliche Grüße vom Murmeltier • Hindernisse für den Binnenmarkt (8 Fragen); • Fairer Beitrag aller digitalen Akteure (23 Fragen). Die Fragen sind überwiegend sehr inter- pretationsbedürftig. Beispielsweise kann man bei Frage 21 zu absoluten Preisen für Breitbandanschlüsse nur vermuten, dass es um Monatsentgelte gehen dürfte. Ordnet man die Erhebung grundsätzlicher ein, so liegt in einer Rückschau ihr Alibicharakter auf der Hand. Altes Forderungsmuster und Gegenargumente EtablierteTK-Netzbetreiber tragen nämlich getreu dem Filmmotto „Und täglich grüßt das Murmeltier“ mindestens seit 2012 vor, dass Gamma und weitere OTT-Konzerne wie insbesondere Netflix oder Spotify nicht nennenswert in eigene Netze investieren würden. Vielmehr würden Letztere ihre Dienste über die Anschlussnetze klassischer TK-Unternehmen wie Deutsche Telekom (DT) realisieren und einen großenTeil der Verkehrskapazität belegen, ohne hierfür zu bezahlen. Der Vorwurf desTrittbrettfahrens wird nicht nur von etlichen Mitgliedern des Europäischen Parlaments und Netz- aktivisten, die gegen solche Zahlungen von OTT-Anbietern primär eine Verletzung des Prinzips des diskriminierungsfreien, gleichberechtigten Transports sämtlicher Inhalte über das Internet (Netzneutrali- tät) anführen, zurückgewiesen. Darüber hinaus wird sie u.a. vomBody of European Regulators for Electronic Communica- tions, v on der Vertretung Deutschlands bei der Eu ropäischen Kommission sowie den Parteien der aktuellen Bundesregierung kritisiert. Diese Ablehnung ist nicht nur überzeugend, weil eine Infrastrukturabgabe das Netzneutralitätsgebot von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2015/2120 eventuell verletzen würde. Darüber hinaus ist die Zurückweisung mindestens aus folgenden fünf Gründen sachgerecht: • OTT-Plattformbetreiber investieren zwar typischerweise nicht in Anschluss- netze mit Glasfaserkabeln bis zum Gebäudekeller oder in die Wohnung (Fiber to the Building bzw. Home – FTTB bzw. FTTH). Sie wenden aber erhebliche Mittel für Datenzentren, Glasfaserkabel zumVerkehrstransport zwischen Datenzentren und Technik zur Unterstützung des Verkehrsaus- tausches mitTK-Netzbetreibern sowie zur Datenspeicherung in Endnutzernä- he (Content Delivery Nodes) auf. In einer von Google finanzierten Studie werden diese Investitionen in Europa mit durchschnittlich 4,5 Mrd. $ pro Jahr im Zeitraum 2014 bis 2017 ge- schätzt, wobei hiervon der größte Teil auf Gamma entfällt. • TK-Netzbetreiber profitieren von den Investitionen der OTT-Plattformbe- treiber in Forschung und Entwicklung zur Schaffung neuer Dienste und in attraktive Inhalte, weil sie Endkunden so dazumotivieren, Internetanschlüsse mit hohen Bandbreiten nachzufra- gen, die TK-Netzbetreibern höhere Deckungsbeiträge ermöglichen als Anschlüsse mit niedrigen Geschwin- digkeiten. • Verkehrsmengenabhängige Zahlungen vonOTT-Plattformbetreibern für den Ausbau von FTTB/H-Netzen verken- nen, dass die Netzkosten klassischer TK-Anbieter wie der DT primär durch die Zahl sowie Lage der Endkunden- anschlüsse und nur zu einem kleinen Teil vom Verkehrsvolumen bestimmt werden. • DerWechsel zu einem„Sending-Party- Network-Pays“-Mechanismus bei der Abrechnung von Verkehr zwischen Netzbetreibern erhöht die Markt- macht von Anschlussnetzbetreibern gegenüber OTT-Plattformen deutlich und erzeugt Regulierungsbedarf, weil OTT-Plattformbetreiber zwingend auf jedes Anschlussnetz angewiesen sind, um ihre Kunden lückenlos zu erreichen. • Viele „klassische“ TK-Netzbetreiber wie die DT sind in ihrem Geschäft mit stationären und mobilen Breit- bandanschlüssen hoch profitabel. Es mangelt ihnen dort nicht an Kapital, sondern an Planungs- und Umset- zungsmitteln. Resümee und Perspektiven Im Ergebnis gibt es keinen strukturellen Nachteil klassischer TK-Netzbetreiber gegenüber Gamma und anderen OTT- Plattformen dadurch, dass nur erstere in FTTB/H-Netze investieren. Eine NNG/ Infrastrukturabgabe, die aktuell besonders eindringlich von der DT gefordert wird, ist nicht zwingend geboten. Dementspre- chend sollte die Bundesregierung daran festhalten, das DT-Plädoyer für eine Ab- gabe von Gamma und anderen großen OTT-Plattformen zu ignorieren. Letztlich könnte es der EU-Kom- mission tatsächlich nicht darum gehen, die finanzielle Basis für den Aufbau von modernen Breitbandnetzen zu verbessern, sondern ihre eigene politische Relevanz durchVerfügungsmacht über einenweiteren Geldtopf zu erhöhen. Entsprechend könnte die Kommission ebenso dafür plädieren, dass bei Elektrofahrzeugen derenHersteller die Ladekosten der Käufer während der gesamten Lebensdauer der Vehikel ganz oder teilweise übernehmen, um die ge- sellschaftlich gewünschte Verbreitung der- artiger Fahrzeuge zu beschleunigen. Es liegt keineswegs fern, dass derenHerstellerWege suchen würden, um der Verschlechterung der Rendite des von ihnen eingesetzten Kapitals entgegenzuwirken. Widerlegbare Gründe dafür, dass OTT-Unternehmen dies nicht auch in Angriff nehmen würden, gibt es keine.
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