NET 08/2021
35 www.net-im-web.de 08/21 Flexibilität bei UHF erhalten als 10.000 km2 ist zur Stunde hierzulan- de nicht einmal ein LTE-Netz verfügbar, von mehreren Netzen ganz zu schweigen. Der zuständige Bundesminister Andreas Scheuer nimmt das ohne Sanktionen gegen die Frequenzinhaber hin und will für die Schließung der Funklöcher sogar noch 1,1 Mrd. € Steuergelder ausgeben. Warum sollten Mobilfunknetzbetreiber dann durch zusätzliche Frequenzen be- lohnt werden? Im Übrigen ist es ihnen unbenommen, zusätzliche Kapazitäten durch eine Verkleinerung ihrer Funkzellen zu schaffen. Mittels Mehrbandantennen und neuer Antennentechnik (Massive- MIMO-Antennenarray) kann außerdem die Übertragungskapazität eines Netzes vervierfacht werden. Derzeit werden auch noch durch die Abschaltung von 3G-Net- zen Frequenzen frei, die effizienter als bislang in LTE- und 5G-Netzen einsetz- bar sind. Schließlich können Rundfunk und Kultur für den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes so wertvoll sein, dass ein Verzicht auf die in Artikel 4 des Beschlusses (EU) 2017/899 bis Ende 2030 verankerte Privilegierung des Rundfunks einer unverhältnismäßigen Gewichtung kommerzieller Interessen der Mobilfunk- netzbetreiber entsprechen und die „digitale Abhängigkeit“ von ihnen zu groß würde. Primärwidmung Mobilfunk Gegen den Fortbestand des Status quo bei der Nutzung der Frequenzen im UHF- Band lässt sich hingegen anführen, dass die Menge der über Mobilfunknetze in Deutschland transportierten Daten von Anfang 2016 bis Ende 2020 um durch- schnittlich 44 % pro Jahr zugenommen hat und weiter so stark steigen wird, dass ohne hohe Investitionen der Betreiber in verbesserte Netztechnik, die zu höheren Endkundenpreisen beitragen, Kapazitäts- engpässe nicht ausgeschlossen sind. Über- dies wird der terrestrische Empfangsweg für Rundfunk inDeutschland kaumnach- gefragt: Nur etwa 4 bis 6 % der TV-Haus- halte empfangen heute Fernsehen über DVB-T2; die Entwicklung dieses Anteils in den letzten Jahren deutet darauf hin, dass er sich nicht rasant vergrößern wird. Im Gegenteil wächst der Konsum nicht- linearer Videostreaming-Angebote über das Internet. Der von ARD und ZDF im 22. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten für den Zeitraum 2020 bis 2024 angemel- dete mittlere jährliche Aufwand für die terrestrischeTV-Verbreitung übersteigt pro DVB-T2-Haushalt den entsprechenden Betrag für einen Satelliten-TV-Haushalt um den Faktor 10 bis 15. Die Verbreitung von Antennenfernsehen ist im Vergleich zu anderen Empfangswegen extrem teuer. Obendrein verfügt zehn Jahre nach dem Start von DAB+ aktuell weniger als ein Viertel der Privathaushalte über einDAB+- Gerät, während mehr als 90 %mit einem UKW-Radio ausgestattet sind. Pro Haus- halt gibt es inDeutschland doppelt so viele UKW- wie DAB+-Geräte. Eine DVB-T2-Nachfolgetech- nik macht besseres Ultra-High-Defini- tion-Fernsehen nur möglich, wenn es in einem neuen Kanalraster sehr breitbandige Signale mit geringer Leistung ausstrahlt. Eine solche radikale UHF-Umwidmung ist aber im Kreis der mehr als 150 an der Weltfunkkonferenz 2023 voraussichtlich teilnehmenden Staaten nicht konsensfähig. Damit ist der Übergang zu einer technisch besseren terrestrischen Rundfunkverbrei- tung über UHF nach 2030 verschlossen. Selbst, wenn die Umwidmung gelingen würde, können zwar die öffentlich-recht- lichen Sender vielleicht die für die Nach- folgetechnik erforderlichen hohen Inves- titionen aus der Rundfunkabgabe der Bürger stemmen. Private Sender werden aber bislang nicht vergleichbar alimentiert, so dass sie in die neue Rundfunktechnik – wenn überhaupt – nur einsteigen werden, sofern die bei ihnen dadurch verursachten Kosten über den Rundfunkbeitrag oder vom Staat finanziert werden. Schließlich könnte die terrestrische Rundfunkverbrei- tung durch unter der Bezeichnung „Further evolved Multimedia Broadcast Multicast Service“ zusammengefasste spezielle tech- nische Lösungen in LTE-/5G-Netzen er- setzt werden. Vorgehensvorschlag Beide Lager haben demnach gewichtige Argumente für ihre Sicht, die allerdings durchweg auf hochgradig unsicheren Prog- nosen aufbauen. Deutschland sollte deshalb auf der nächstenWeltfunkkonferenz dieser Ungewissheit durch eine Position gerecht werden, die Handlungsflexibilität auf na- tionaler Ebene eröffnet. Konkret bedeutet dies zweierlei. Erstens sollten die Rund- funk- und Kultursektoren keine Garantie erhalten, dass bei der UHF-Widmung ihren Diensten ab 2031 erste Priorität vor anderen Nutzungen wie Internetan- schlüsse über öffentliche Mobilfunknetze eingeräumt wird. Zweitens sollten sich die Teilnehmerstaaten derWeltfunkkonferenz 2023 dazu verpflichten, erst Ende 2026 verbindlich zu entscheiden, ob sie national bzw. in Europa EU-weit die Frequenzen von 470 bis 694 MHz ab 2031 gleichran- gig Rundfunk-, PMSE- und Mobilfunk- diensten oder mit Priorität einer dieser Dienstekategorien zuweisen. Auf diese Weise wird Unsicher- heit abgebaut, weil für die Beobachtung tatsächlicher Entwicklungen auf den rele- vanten Märkten die Jahre 2024 bis 2026 gewonnen werden. Gleichzeitig erhalten Rundfunk-, Kultur- und Mobilfunkan- bieter genügend Zeit, um sich auf eine etwaige neue Zuordnungssituation jenseits des Jahres 2030 vorzubereiten. Zwar ist verständlich, dass Lobbyisten schon heute starken Druck ausüben, sich rasch bezüg- lich der langfristigenUHF-Verwendung in Deutschland festzulegen. Diesem Druck nachzugeben, wäre aber töricht.
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