NET 09/2021
46 www.net-im-web.de 09/21 Systemrelevant und aktiver Klimaschutz Refurbishment in den Köpfen verankern Interview mit Matthias Künsken, Geschäftsführer Seloca Herr Künsken, Sie machten in der NET 5 im ver- gangenen Jahr gleich zu Beginn der Pandemie erstmals auf die Systemrelevanz des Refurbishings von Routern, Kabelmodems und Set-Top-Boxen aufmerksam und wurden teilweise etwas belächelt. Sehen Sie sich heute bestätigt? Matthias Künsken: Mir geht es nicht um Bestätigung. Und niemand hat eine Glaskugel, mit der man in die Zukunft sehen kann. Wer konnte schon die giganti- schen Dimensionen erahnen, die eine Unterbrechung oder zumindest eine Verzögerung der Lieferketten aus Asien, insbesondere aus China, bis heute haben würde. Bei den elektronischen Geräten sind es ins- besondere Halbleiter, die nicht nur in Deutschland, sondern europaweit fehlen. Europa verbraucht etwa 20 % der weltweiten Halbleiterproduktion und wird in den kommenden zwölf Monaten bestenfalls die Hälfte seines Bedarfs decken können. NET: Welche Ursachen sehen Sie? M. Künsken: Es ist eine Melange verschiedener Män- gel. Neben fehlenden Rohstoffen wurden stillgelegte Produktionsstätten infolge fehlender Rohstoffe nicht mehr hochgefahren. Die Transportprobleme haben sich durch nicht vorhandene Frachtkapazitäten potenziert. Und niemand weiß, ob dem Mangel vielleicht nicht auch wirtschaftsstrategische Überlegungen der Haupt- lieferländer China und den USA zugrunde liegen. NET: Sie haben vor einiger Zeit davor gewarnt, dass die Digitalisierung und der Breitbandausbau in Deutsch- land ausgebremst werden. Stimmt das? M. Künsken: Die Lieferprobleme bei Routern und Modems halten an. Vom Halbleitermangel sind fast alle Hersteller betroffen. Wenn Infineon mittlerweile von 2023 spricht, werde ich hellhörig. Eine Entspannung ist somit erst viel später in Sicht als erwartet, wird aber vor allem für das breite Wiederanfahren unserer Wirt- schaft benötigt. In Deutschland werden derzeit jährlich rund 5 Mio. Geräte für Neukunden und als Ersatz von Altgeräten benötigt. Dramatisch wird es, wenn nur rund die Hälfte davon bereitsteht. NET: Welche Folgen hat dies für Netzbetreiber? M. Künsken: Fehlende Halbleiter, Baumaterialien und dazu noch die bereits seit längerem begrenzten Tiefbau- kapazitäten entwickeln sich zur toxischen Mischung für den dringend benötigten beschleunigten Glasfaseraus- bau. Es gibt nicht wenige Interessenvertreter in der Poli- tik und in der Branche, die dieses Thema aus politischer Opportunität zunächst ignoriert haben. Wer im Markt nicht rechtzeitig vorgesorgt hat, gerät nun zunehmend in Schwierigkeiten. Einige raten ihren Kunden inzwischen, sich auf dem privaten Markt selbst Router zu besorgen. Für Verbraucher bedeutet dies, dass sie möglicherweise wesentlich länger beim Altanbieter bleiben müssen. NET: Boomt ihre Branche? M. Künsken: Die Pandemie hat sich massiv auf die Nachfrage nach unseren Diensten ausgewirkt. Ähnliches berichtet der Wettbewerb. Wir haben die Zahl unserer Netzpartner in 18 Monaten von 25 auf aktuell rund 60 gesteigert und die Mitarbeiterzahl auf 50 hochgefahren. Darunter sind viele Neukunden auch aus benachbarten EU-Ländern. Zudem bereiten wir ja nicht nur Endgeräte auf, sondern übernehmen viele andere Dienstleistungen bis hin zum kompletten Gerätemanagement und Aus- tausch beim Kunden. Neue Geschäftsfelder wie IP-Boxen und Smartmetering-Geräte für die Wohnungswirtschaft kommen hinzu. NET: Paaren sich hier Wirtschaftlichkeit und Klima- schutz? M. Künsken: Ich denke ja, in idealer Weise. Der Einsatz wiederaufbereiteter Endgeräte lohnt sich wirtschaftlich für alle Beteiligten. Hinzu kommen viele Faktoren rund um Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Einige unserer Netzpartner setzen dabei auf eine neue Strategie. Sie vermarkten refurbishte Geräte aktiv. Deren Kunden akzeptieren gebrauchte und generalüberholte Geräte als eigenen Beitrag zur Entlastung der Umwelt. Doch noch gibt es viele weitere Potenziale für die Umwelt. NET: Inwiefern? M. Künsken: Hersteller sollten bei der Endgerätepro- duktion aus meiner Sicht auf Metall- und Klavierlacke verzichten. Warum nicht Geräte in monotonen Farben wie weiß oder schwarz ausliefern? Die Branche sollte zudem über ein grünes Label für überholte Geräte nachdenken. Dies erhöht das Bewusstsein der Verbraucher und sie können aktiv für die Umwelt eintreten. Dem Verbraucher muss gezeigt wer- den, dass die Quali- tät der Endgeräte so hoch ist, dass sich auch noch sechs bis sieben Jahre alte Router wiederaufbereiten lassen. NET: Was empfehlen Sie Anbietern von Internetdiensten? M. Künsken: Optimal wäre es, wenn alle Netzbetreiber beim Endkunden ungenutzte Endgeräte zurückfordern und wenn möglich, einem professionellen Refurbish- ment unterziehen. Und warum sollten Altgeräte, falls sich diese nicht mehr für deren Ansprüche eignen, nicht weitervermarktet werden, um den Lebenszyklus der Router zu verlängern. NET: Erkennt die Politik den Wert von Refurbishment? M. Künsken: Schon beim letzten Digitalgipfel 2020 war die Wiederaufbereitung elektronischer Endgeräte ein wichtiges Thema. Und kürzlich haben wir zusammen mit dem Buglas und einem Wettbewerber in einem Nach- haltigkeits-Workshop des BMVI das Thema vorgestellt. Doch noch gibt es viel für die Politik zu tun. Steuerliche Entlastungen für Refurbishment-Unternehmen könnten die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der osteuropäi- schen Konkurrenz deutlich erhöhen. Die Wiederaufbe- reitung hat inzwischen eine sehr hohe Systemrelevanz für die Breitbandversorgung. Und warum schafft der Staat nicht über Gutscheine Anreize bei Verbrauchern für die Rücksendung alter Geräte, die dann wieder in den Kreislauf gebracht werden können? NET: Wie lässt sich das Bewusstsein für den schonenden und nachhaltigen Umgang mit Ressourcen steigern? M. Künsken: Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, den sensiblen Umgang in die Köpfe aller Beteiligter zu bringen. Die Politik könnte durch Aufklärungskampa- gnen einen wichtigen Beitrag leisten. Vorstellbar wäre zudem eine Art Gütesiegel für refurbishte Endgeräte vom Router über den PC bis hin zum Smartphone. Matthias Künsken (Foto: Seloca)
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